Arzneistoffe entwerfen: Alles Berechnung

Erschienen in: bild der wissenschaft 11/2013

Berliner Mathematiker haben am Rechner einen Arzneistoff gegen Schmerzen entworfen. Verdrängen Computermethoden die Laborarbeit?

MARCUS WEBER IST ÜBERZEUGT, einen Arzneistoff entwickelt zu haben, der Schmerzen effektiv bekämpft. Und der dabei keine schweren Nebenwirkungen hervorruft, wie sie von anderen Schmerzmitteln bekannt sind: Die weit verbreiteten Opioide beispielsweise können abhängig machen, die Verdauung stören oder die Atmung aussetzen lassen. Webers Wirkstoff – ebenfalls ein Opioid – richtet sich vor allem gegen Entzündungsschmerzen, wie sie bei Arthritis, Tumoren oder nach Operationen und Verletzungen auftreten. Das Erstaunliche: Weber ist kein Pharmazeut, sondern Mathematiker des Konrad-Zuse-Instituts Berlin und des DFGForschungszentrums Matheon. Er hat den potentiellen Wirkstoff gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Olga Scharkoi ausschließlich am Computer entworfen- mittels raffinierter Simulationsmethoden, fernab von chemischen Laboren.

DAS ZIEL: UNERWÜNSCHTE NEBENWIRKUNGEN AUSSCHALTEN

Opioide lagern sich im Körper an Opioid-Rezeptoren an – bestimmte Eiweiß-Moleküle im Nervengewebe, die an der Weitergabe und Bewertung von Schmerzsignalen beteiligt sind. Dabei ist es egal, ob sich diese Rezeptoren im Gehirn, im Rückenmark oder in den äußeren Bereichen des Nervensystems befinden. „Die Idee war, einen Wirkstoff zu entwickeln, der sich auf Rezeptoren im peripheren und entzündeten Gewebe setzt und andere Rezeptoren ignoriert“, sagt Weber. Denn die Rezeptoren im zentralen Nervensystem sind wesentlich verantwortlich für die unerwünschten Nebenwirkungen.

Den Anstoß dazu gaben Berliner Mediziner um Christoph Stein, Leiter der Klinik für Anästhesiologie der Charité. Sie hatten die Mechanismen der Schmerzentstehung im peripheren Gewebe intensiv erforscht. Dabei fanden sie heraus, dass die Rezeptoren im entzündeten Gewebe anders sind als im gesunden, obwohl ihr grundsätzlicher chemischer Aufbau gleich ist. Aufgrund ihrer veränderten chemischen Umgebung unterscheiden sich die Rezeptoren in ihrer Bindungsfreudigkeit und in ihrer räumlichen Gestalt. Stein sprach darüber mit Peter Deuflhard, heute Senior-Professor an der Universität Berlin, zuvor langjähriger Präsident des Konrad-Zuse-Instituts und Webers ehemaliger Chef. Dabei entstand der Plan, mit neuen mathematischen Methoden nach nebenwirkungsärmeren Opioiden zu suchen.

Prinzipiell setzen Wissenschaftler weltweit schon seit rund 30 Jahren Computerprogramme ein, um herauszufinden, welche Stoffe optimal in die Bindungstasche eines Rezeptors oder anderer Zielproteine passen. Das ist einerseits räumlich zu verstehen, so wie ein Schlüssel ins Schloss passt oder Finger in einen Handschuh. Andererseits geht es auch darum, dass sich potentieller Wirkstoff und Zielprotein chemisch perfekt ergänzen sollen: Die anziehenden Kräfte zwischen den Atomen der beiden Moleküle müssen größer sein als die abstoßenden. Kompliziert wird die Betrachtung vor allem durch zwei Faktoren: Erstens sind die exakte Abfolge der Atome und die räumliche Anordnung des Zielproteins nicht immer genau bekannt. Zweitens sind Wirkstoffe und Zielproteine flexibel und ihre Gestalt kann sich beim Andocken entscheidend verändern. Für Theoretiker und Computer läuft räumliche und chemische Passgenauigkeit letztlich auf das Gleiche hinaus: Es gilt, die Bindungsenergie zwischen Stoff und Zielprotein möglichst genau abzuschätzen.

Zunehmend beziehen die Computerchemiker auch die Bewegungen von Stoffen und Zielproteinen in ihre Simulationen ein, um die Bindungsenergien zuverlässiger vorherzusagen und die Prozesse vor, während und nach dem Andocken realitätsgetreuer nachzuahmen. Allerdings stellen solche Moleküldynamik-Simulationen Ansprüche an die Rechenleistung, die selbst die enormen Fähigkeiten moderner Computer manchmal übersteigen. Zumindest aber benötigen sie sehr viel teure Rechenzeit.

Weber verdeutlicht das Problem am Beispiel eines Proteins, das von einem Zustand A in einen Zustand B umklappt – und zwar durchschnittlich jede tausendstel Sekunde einmal. Auf der Zeitskala von molekularen Prozessen dauert der Vorgang somit sehr lange. „Üblicherweise lassen sich aber nur Vorgänge im Bereich von Femtosekunden – billiardstel Sekunden – simulieren“, sagt Weber. Man müsste also erwartungsgemäß eine Billiarde Zeitschritte simulieren, um ein einziges Mal dieses Umklappen zu sehen.

Will man dann auch noch beobachten, mit welcher statistischen Häufigkeit das Protein umklappt, müsste man den Rechenaufwand multiplizieren. Dies wäre, erläutert Weber, ungefähr so, als ob man untersuchen wollte, wie wahrscheinlich es ist, mit sechs Richtigen im Lotto zu gewinnen. Würde man dafür nur einen einzigen Lottospieler und dessen Gewinnhäufigkeit beobachten, wäre es kaum möglich, diese Wahrscheinlichkeit zu ermitteln. Vermutlich würde man sogar nie miterleben, dass der Lottospieler sechs Richtige gewinnt. „Es ist also nicht sehr erfolgversprechend, bei dieser Statistik nur auf einen Zeitstrahl zu setzen“, erläutert Weber.

MOLEKÜLSIMULATION MIT NEUER MATHEMATIK

Viel besser könnte man die Frage nach der Gewinnwahrscheinlichkeit beantworten, wenn man sich alle Lottospieler anschaut. Ähnlich ist es bei der Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein Stoff an einen Rezeptor bindet. Um sie zu beantworten, haben die Forscher von ZuseInstitut und Matheon ein Computerprogramm entwickelt, das laut Weber auf einer ganz neuen Mathematik beruht. Sie simulieren nicht das Verhalten eines Moleküls über einen längeren Zeitraum, sondern erschaffen gleichzeitig ganz viele verschiedene Molekülzustände und fertigen daraus eine Statistik an. „Das ist deutlich effektiver“, ist der Mathematiker überzeugt.

Dadurch ist es möglich, in akzeptabler Rechenzeit Prozesse wie den Bindungsvorgang von Wirkstoff-Kandidat und Zielprotein im Computer nachzustellen – und künftig womöglich auch die Vorgänge, die durch das Andocken eines Stoffes am Rezeptor ausgelöst werden. Dagegen zeigen Simulationen, die lediglich Zeiträume von Femtosekunden überstreichen, beispielsweise nur, wie die Atome innerhalb des Zielmoleküls oder des Wirkstoffes hin- und herschwingen.

Die Berliner Mathematiker setzten ihre Methodik für das Schmerzmitteldesign ein, nachdem sie Modelle für die Opioid-Rezeptoren im gesunden und im entzündeten Gewebe entworfen hatten. Ausgangspunkt für die Wirkstoffsuche waren dabei herkömmliche Opioide, die Schmerzen effektiv bekämpfen, aber viele Nebenwirkungen haben. Doch beim ersten Stoff, den die Wissenschaftler auf diese Weise entwarfen, gab es ein Problem: „Als ich mit der Strukturformel zu Chemikern gegangen bin, sagten die mir, dass seine Synthese sehr aufwendig und somit teuer wäre“, erinnert sich Marcus Weber. Also läutete er eine neue Suchrunde nach einem verwandten, aber leichter herstellbaren Stoff ein – mit Erfolg.

PATENTANTRAG FÜR DEN WIRKSTOFF

Die Mediziner der Charité verabreichten das neue Opioid Ratten, deren Pfoten entzündet waren. Solche Versuche sind in der Arzneimittelforschung nicht gänzlich zu vermeiden. Zellund Gewebekulturen hätten nicht dieselbe Aussagekraft über die Wirksamkeit der Substanz gehabt. Wird den Ratten auf die entzündeten Pfoten gedrückt, so ziehen sie diese normalerweise zurück – nicht so die behandelten Ratten. Zugleich zeigte sich, dass der Wirkstoff bei den Tieren auch in extrem hoher Dosierung nicht zum Atemstillstand oder anderen schweren Nebenwirkungen führte. Inzwischen haben die Berliner Wissenschaftler den Wirkstoff beim Europäischen Patentamt für ein internationales Patent angemeldet.

Klar ist: Bis das neue Opioid Patienten helfen kann, ist es noch ein langer Weg. Denn es reicht selbstverständlich nicht aus, dass ein Wirkstoff-Kandidat nach Zellkultur- und Tierversuchen als ungiftig, nicht krebsauslösend, nicht schädlich für Embryonen und nicht erbgutverändernd gilt. Er muss die sogenannte klinische Prüfung absolvieren, die in drei Phasen verläuft: In der ersten wird der Wirkstoff-Kandidat an einigen wenigen gesunden Menschen hinsichtlich Verträglichkeit und Verhalten im Stoffwechsel getestet. In der zweiten Phase wird er dann typischerweise an 100 bis 500 Kranken und in der dritten Phase an Tausenden Kranken erprobt. Bei guten Ergebnissen kann der Hersteller des Medikamentes danach die Zulassung beantragen. Die klinische Prüfung dauert nach Angaben des vfa, des Verbandes der forschenden PharmaUnternehmen, durchschnittlich sieben bis acht Jahre. Nur eine von neun Substanzen, die an Menschen erprobt werden, erreicht am Ende tatsächlich den Markt.

An dieser Bilanz ändern auch immer raffiniertere Computermethoden bei der Wirkstoffsuche und in der Wirkstoffentwicklung bislang nichts. „Computersimulationen sind sehr hilfreich, aber ohne Experimente geht es in der Arzneimittelforschung nicht“, ist Experte Gerd Krause vom Berliner Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie überzeugt. Ins gleiche Horn stößt Markus Wagener, Leiter der Gruppe „Computational Chemistry“ beim Pharmaunternehmen Grünenthal: „Computersimulationen sind heutzutage in innovativen Pharmaunternehmen Stand der Technik und werden daher in jedem unserer Forschungsprojekte eingesetzt. Allerdings ist die Vorstellung völlig unrealistisch, man brauche nur in die Tasten zu greifen, um dann nach wenigen Tagen einen neuen Wirkstoff-Kandidaten zu haben.“ Stattdessen sollten bei der Wirkstoffsuche Pharmakologen, Biologen, Medizinalchemiker und Theoretiker eng zusammenarbeiten. Um Erfolg zu haben, meint Wagener, müsse man Laborarbeit und die Arbeit am Computer effizient miteinander verbinden.

Als ein typisches Beispiel führt der Wissenschaftler das Zusammenspiel zwischen dem sogenannten „Virtual Screening“ (VS) und dem „High Throughput Screening“ (HTS) an. Während beim VS Computerprogramme das Zielprotein und Testsubstanzen in Sekundenbruchteilen nachbilden und bewerten, testen Pharmaunternehmen beim HTS mit Hilfe von Robotern innerhalb von einem Tag bis zu 300.000 reale Substanzen daraufhin, ob sie an das Zielprotein binden.

AM ANFANG ZÄHLT VOR ALLEM SCHNELLIGKEIT

„VS kann beispielsweise helfen herauszufinden, welche Stoffe für das HTS eingekauft oder hergestellt werden sollen – und bei welchen sich das nicht lohnt“, erläutert Wagener. Zu diesem Zweck setzen Pharmaunternehmen Computerprogramme ein, die im Vergleich zu Moleküldynamik-Simulationen wenig Rechenzeit brauchen. Am Anfang der Suche nach einem neuen Wirkstoff akzeptieren Pharmaforscher dabei, dass auch einige Substanzen gefunden werden, deren Aktivität sich später im Experiment nicht bestätigt.

Obwohl Wagener und Krause eine ausschließlich computerbasierte Wirkstoffsuche im Moment noch als Wunschtraum ansehen, begrüßen sie es, dass Mathematiker wie Weber die Simulationsmethoden weiterentwickeln. „Moleküldynamik-Simulationen sind derzeit noch keine Routine, werden nun aber zunehmend auch für die Pharmaindustrie interessant“, sagt Grünenthal-Experte Wagener.

Der Mathematiker Marcus Weber erklärt: „Tatsächlich geht es bei unserer Simulationsmethode nicht um das Auffinden von Wirkstoffen aus Abertausenden Substanzen, sondern um die sehr genaue Analyse einiger weniger Molekülsysteme und ihre Optimierung.“ Die Information, die man aus solchen Simulationen erhalte, könnte helfen, die Suche nach Wirkstoffen zielgerichteter zu machen. Er selbst beschreibt das Vorgehen, mit dem er und die anderen Berliner Forscher den neuen Schmerzmittel-Kandidaten ausschließlich am Computer gefunden haben, mit einem Wort: „Exotisch.“

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Dr. Frank Frick, Chemiker und Medizinjournalist

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